Sicherheitsbeauftragter der BKH-Forensik: "Es gibt nichts, was es nicht gibt"
"Ich müsste eigentlich ein Buch schreiben", sagt Peter Thamm. Stoff dafür hätte er genug. 46 Jahre lang hat er am Lohrer Bezirkskrankenhaus gearbeitet, 32 davon in der Forensik. 18 Jahre lang war er dort Sicherheitsbeauftragter, der erste überhaupt.
In der gefängnisähnlich gesicherten Einrichtung, in der suchtkranke und psychisch kranke Straftäter therapiert werden, hat Thamm Dinge erlebt, die sich Außenstehende kaum vorstellen können. Seit dem Jahreswechsel ist der 65-Jährige in Ruhestand. Anlass für einen Einblick in seinen Arbeitsalltag und den Umgang mit einer nicht einfachen Klientel.
Der Einfallsreichtum der Patienten sei unvorstellbar, wenn es um die Befriedigung ihrer Sucht oder anderer Bedürfnisse gehe, schildert Thamm eine Facette. Er erinnert sich an Drogen, die Komplizen im Supermarkt in Müslipackungen versteckt hatten, welche Freigänger dann kauften. Oder an aus Rasierapparaten gebastelte Tätowiermaschinen. Und natürlich auch an Entweichungen von Patienten – aber nur an eine wirkliche Flucht in all den Jahren.
"Das hätte ich auf der Zielgeraden nicht mehr gebraucht", sagt Thamm über den 37-Jährigen, dem im März 2019 mit Hilfe zweier Mit-Patienten das Überwinden aller Sicherheitseinrichtungen und das Übersteigen des stacheldrahtbewehrten Zauns gelang. Heute, so Thamm, wäre ein solcher Ausbruch nicht mehr möglich: "Wir haben nachgebessert."
Von der technischen Ausstattung über Ablaufpläne für Alltag und Krisenfälle bis zur Personalschulung – das stetige Feilen am Sicherheitskonzept war Thamms Hauptaufgabe. Wichtigste Vorgabe: "Es darf niemand ausbrechen." Thamm sagt aber auch: "Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie." Die Lohrer brauchten jedoch keine Angst zu haben: "Von der Forensik geht keine Gefahr für die Bevölkerung aus", ist sich Thamm sicher.
Zwei Drittel in der BKH-Forensik sind suchtkrank
Er nennt Zahlen: Die Forensik hat aktuell gut 180 Patienten. Zwei Drittel davon sind suchtkrank, ein Drittel ist psychisch krank. Ihnen allen soll der Weg in ein straffreies Leben in Freiheit aufgezeigt werden. Die Therapie beinhaltet Lockerungen bis hin zu begleiteten und schließlich auch unbegleiteten Freigängen. Pro Jahr treten so laut Thamm in rund 30000 Fällen Patienten durch die Schleuse aus der Forensik hinaus. Im Schnitt kämen pro Jahr vier bei diesen 30000 Freigängen nicht zurück. Als Entweichung zähle dabei schon, wenn ein Patient verspätet zurückkehre, so Thamm.
Ihm sei kein Fall bekannt, in dem ein Forensik-Abgänger in Lohr eine Straftat begangen habe. Lange bleibe jedoch kaum einer draußen, sagt Thamm: "Es kommen alle wieder zurück." Ob freiwillig, oder nicht. "Die Kunst ist nicht, wegzulaufen. Die Kunst ist es, draußen zu bleiben", so Thamm. Nur ein einziger entwichener Patient sei nie mehr aufgetaucht. Vermutlich habe er sich in sein Heimatland abgesetzt.
Rund 18 Jahre lang war Peter Thamm für die Sicherheit der Forensik am Lohrer Bezirkskrankenhaus zuständig. Das Bild zeigt ihn am Eingang zu der gefängnisähnlich gesicherten Einrichtung, in der psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter therapiert werden. Vom Arbeitsalltag dort hat Thamm viel zu erzählen.
Foto: Johannes Ungemach
"Kranke Menschen mit Fehlern"
Bei allem Bemühen um größtmögliche Sicherheit sei ihm in all den Jahren der menschliche Aspekt wichtig gewesen, sagt Thamm. Wenngleich er nie ihre teils auch sehr schweren Straftaten ausgeblendet habe, sehe er die Patienten bis heute als "kranke Menschen mit Fehlern". Sein Ziel sei immer gewesen, "die guten Anteile herauszuholen".
Dass dies nicht immer leicht war, bekennt Thamm unumwunden. Die Forensik-Patienten seien eine schwierige Klientel. Dies gelte besonders für die Suchtkranken, "oft intelligente Menschen mit kriminellem Potenzial". Wenngleich Gewalt unter Forensik-Patienten keine Seltenheit sei, kann Thamm über sich sagen: "Ich bin nie körperlich angegriffen worden." Einmal habe ihn ein Patient bespuckt.
Ein Schwerpunkt in der Arbeit des Sicherheitsbeauftragten ist es, Dinge aufzuspüren, die in der Forensik nichts verloren haben. Drogenabhängige suchten mit "wahnsinniger Energie" nach Lücken, um Drogen einzuschleusen. "Es gibt nichts, was es nicht gibt", beschreibt Thamm und erzählt von präparierten Schuhen ebenso wie Würfen über den Zaun. Auch davon: 2019 habe es in der Forensik eine auffällige Häufung von Rückfällen bei drogensüchtigen Patienten gegeben – bis man verboten habe, sich vom Lieferservice Pizzen bringen zu lassen.
Das größte Risiko seien jedoch die Besucher der Patienten, so Thamm. "Man müsste jeden ausziehen und jede Naht der Kleidung öffnen – und dann gibt es noch die ganzen Körperöffnungen", sagt Thamm. Er spricht von einem "Hase-und-Igel-Spiel", von dem er wisse, dass die Klinik trotz vieler Kontrollen nicht selten einen Schritt zu spät komme. Die ständige Weiterbildung zu neuen Drogen auf dem Markt gehöre daher zur Daueraufgabe eines Sicherheitsbeauftragten. Es gehe schlicht darum, therapiewillige Patienten vor Drogen schützen, so Thamm.
Spagat: Nähe und Distanz
Für ihn sei die "Arbeit mit psychisch kranken Rechtsbrechern" stets Erfüllung gewesen, zieht Thamm Bilanz, lässt dabei jedoch die besonderen Herausforderungen des Arbeitsalltags in der Forensik nicht unerwähnt. Neben dem Gewaltpotenzial, das sich erst vor wenigen Tagen in einer schweren Auseinandersetzung zwischen zwei Patienten Bahn brach, zählt auch der ewige Spagat zwischen Nähe und Distanz zu den Patienten dazu.
Dass es dabei auch in der Lohrer Forensik zu Grenzüberschreitungen kam, weil sich Mitarbeiterinnen zu eng mit Patienten einließen, "darf nicht passieren – aber es passiert eben doch", sagt Thamm. Wenn Personal und Patienten Tag und Nacht beisammenseien, "dann menschelt es auch".
Dass es auch auf andere Weise menschelt, belegt folgende Schilderung Thamms: Ein Patient, der 25 Jahre in der Lohrer Forensik untergebracht war, schreibe ihm noch heute einmal im Jahr einen Brief. "Er hat mich wie einen Vater angesehen", sagt Thamm. Das sei auf der einen Seite "etwas sehr Spezielles". Auf der anderen Seite steht Thamms Professionalität: "Ich antworte auf die Briefe nicht."
Artikel: Johannes Ungemach