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BKH während des Nationalsozialismus

Der folgende Text wurde uns freundlicherweise durch Herrn Dr. Wolfgang Vorwerk  zur Verfügung gestellt.

Herrschaft der Nationalsozialisten (1933 – 1945)

Die Lage vor 1933: Beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich überall in Europa und Amerika eine „eugenische Bewegung“. Sie wollte das „Volksganze“ durch Zwangssterilisierung der „Erbkranken“ stärken. Obwohl „Die Gesellschaft für Rassenhygiene“ in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg rasch an Einfluss gewann und schließlich die öffentliche Meinung beherrschte, scheiterten während der Weimarer Republik alle Versuche der Legalisierung der Zwangssterilisierung.

Zwangssterilisation ab 1933: Mit Machtübernahme 1933 änderte sich die Lage, da die Nationalsozialisten vom ersten Tag an die Schaffung eines Menschen nach ihrem Rasseideal verfolgten. Schon am 14.7. 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen. Am 1.1.1934 trat es in Kraft. Es regelte die Zwangssterilisierung von vermeintlich „Erbkranken“.  Die Heil- und Pflegeanstalten wurden aufgefordert, rasch ihre „Altbestände durchzusterilisieren“, auch wenn die Anstaltsleiter nur die Anträge stellen konnten.

Laut Aktenlage kamen die Ärzte der Lohrer Heil- und Pflegeanstalt dieser Aufforderung von Anfang an umfassend nach. Insgesamt beantragte das Lohrer Direktorat 240 Zwangssterilisationen bis 1944, 59 Anträge kamen von anderen amtlichen Stellen. Diese fast 300 Anträge zogen 188 Sterilisierungen nach sich:  bei 93 Frauen und 95 Männern. Für Lohr zuständig waren für die Durchführung des operativen Eingriffs, der auch tödlich enden konnte, bei Frauen die Universitätsfrauenklinik Würzburg, bei Männern die chirurgische Universitätsklinik Würzburg.

Bei dem für die Anträge zuständigen Erbgesundheitsgericht Aschaffenburg müssen sich erschütternde Szenen abgespielt haben, wenn sich die Betroffenen und ihre Angehörigen  mit der Kraft der Verzweiflung gegen die Anträge der Ärzte wehrten. Unabdingbare Voraussetzung für die Entlassung fortpflanzungsfähiger Patientinnen und Patienten war nämlich nach diesem unmenschlichen Gesetz die vorherige Unfruchtbarmachung.

 „Zentrale Euthanasie“ (T4-Aktion) ab 1939: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kam es durch ein Ermächtigungsschreiben von Adolf Hitler vom 1.1.1939 zu einer weiteren Radikalisierung der Politik gegen seelisch kranke und geistig und körperlich behinderte Menschen. Unter dem Deckmantel der „Gnadentodes“ scheinlegalisierte Hitler ihre Ermordung durch die vage Formulierung, dass sie laut ärztlichem Urteil  als „unheilbar“ gelten. Zuständig war die Kanzlei des Führers in Berlin. Als Tarnorganisation für diese sog. „zentrale Euthanasie“ wurde eine Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 eingerichtet. Von dieser Adresse her hat sich nach 1945 für diese Aktion der Name „T 4“ eingebürgert. Nach dem Kriterium „Arbeitsfähigkeit und Heilbarkeit der Patienten“ wurde durch T4-Ärzte über das Schicksal von schätzungsweise 300.000 durch Meldebögen erfasste Anstaltsinsassen im Reich entschieden. Für diese T4-Aktion wurden sechs Tötungsanstalten mit Gaskammern und Krematorien im Reich eingerichtet (Brandenburg a.d. Havel, Bernburg, Pirna-Sonnenstein, Hadamar, Grafeneck und Hartheim bei Linz). Dazu kamen sechs Zwischenanstalten – sozusagen als „Wartehallen“. 

Anlage Tötungsorte Würzburg Karte

Anfertigung: Inge Kaesemann und Tochter (Aktion Stolpersteine Würzburg)

T4-Deportationen aus Lohr 1940: Eine T4-Kommission aus Berlin hat im August 1940 für eine Woche auch Lohr besucht und nur nach Aktenlage 451 Männer und Frauen selektiert, darunter auch Angehörige aus Lohrer Familien. Im Oktober/November wurden sie in mehreren Transporten „verlegt“ und in den Tötungsanstalten Grafeneck, Pirna-Sonnenstein und Hartheim vergast. Der damalige Leiter der Lohrer Anstalt, Dr. Richard Stöckle, hatte sich im Vorfeld geweigert, diese Selektion durchzuführen. Unter anderem führte er die Kurzfristigkeit und Personalmangel an.  Als Nichtparteimitglied wurde er möglicherweise deswegen am 1.1.1941 in den Ruhestand versetzt. Ihm folgte Dr. Pius Papst aus Werneck – Parteimitglied und überzeugter Nationalsozialist. Lohr ist ein Paradebeispiel für die wahren Hintergründe der T4-"Euthanasie"-Aktion. In Lohr wurde kurzfristig Platz für die Übernahme von 500 der 800 Wernecker Patienten gebraucht: Die Heil- und Pflegeanstalt Werneck musst nämlich kriegsbedingt im Herbst 1940 für volksdeutsche Rücksiedler aus der damaligen Sowjetunion freigemacht werden. Die übrigen Wernecker Anstaltsinsassen (291) wurde in dieselben Tötungsanstalten wie die Lohrer Kranken deportiert.

Bereits am 16. September 1940 waren alle 19 jüdischen Anstaltsinsassen aus Lohr auf Anordnung des Bayerischen Innenministeriums in die Anstalt Eglfing-Haar bei München „verlegt“ worden. Von dort waren sie mit sämtlichen bis zu 200 jüdischen Patienten aus den anderen bayerischen Anstalten nach Hartheim bei Linz deportiert und am 20.9.1940 vergast worden. Bei den jüdischen Anstaltsinsassen war das alleinige Kriterium, dass sie jüdisch waren. Es bedurfte keiner Selektion.

Sie waren bis dahin relativ unbehelligt geblieben und geradezu privilegiert. Die Heil- und Pflegeanstalt in Lohr war die einzige öffentliche Einrichtung für psychisch Kranke im Reich, wo durch einen privaten jüdischen Fürsorgeverband (mit Sitz Aschaffenburg) eine seelsorgerliche Betreuung und rituelle (koschere) Verpflegung ermöglicht wurde. Hierzu hatte der Verband 1924 den sog. „israelitischen Pavillon“ mit Küche auf dem Anstaltsgelände erbauen dürfen. Als Betreuer und Geschäftsführer war im gleichen Jahr Simon Strauß, ein ehemaliger Religionslehrer aus Hessen, eingestellt worden. Zwei Gedenktafeln erinnern ganz in der Nähe am Haus Am Sommerberg 43 an das Wirken von Simon Strauß und an die sog. „Judenküche“, wie der Pavillon bei den Lohrern hieß.

Von den insgesamt 470 deportierten nichtjüdischen und jüdischen Anstaltsinsassen aus Lohr kehrte niemand zurück.

 Auf Anweisung von Adolf Hitler wurde die T 4-Aktion am 24.8.1941 eingestellt. Sie hat über 70.000 Menschen, davon 5000 Kindern, das Leben gekostet. Den Anstalten gegenüber sprach man von „Transportschwierigkeiten“. Die Einstellung erfolgte aber in Wirklichkeit nach Protesten von betroffenen Familien und nach der aufsehenerregenden und mutigen Predigt von Bischof Graf Clemens August von Galen. Die Geheimaktion war eben doch nicht geheim geblieben. Gleichwohl füllte auch Dr. Pius Papst weiterhin die aus Berlin geschickten Meldebögen für den Fall der Wiederaufnahme der zentralen T4-Aktion aus. Eine solche gab es jedoch nicht mehr. Der Betrieb der Tötungsanstalten mit den Tag und Nacht rauchenden Schlöten der Krematorien mitten in den Orten wurde, zumindest für T4, nie mehr aufgenommen.

„Dezentrale Euthanasie“ – Hungersterben auch in Lohr 1942-1945: Das Morden ging dennoch auch weiter.

Die bislang zentral durchgeführte T4-Aktion wurde, da es seit August 1941 keinen „Führerbefehl“ mehr gab, „dezentralisiert“ (daher „dezentrale Euthanasie“). In Bayern ergriff das Bayerische Staatsministerium des Innern die Initiative und erließ mit Datum 30. November 1942 den sog. „Hungerkosterlass“. Hierdurch sollten vermeintlich „unheilbare“ psychisch Kranke durch Nahrungsmittelentzug (sog. „Hungerkost“) zu Tode gehungert werden, um Betten frei zu machen. Der Erlass war an alle Direktoren der bayerischen Heil- und Pflegeanstalten gerichtet, auch an Dr. Pius Papst in Lohr.

Papst behauptete zwar nach dem Krieg, es habe in Lohr kein Hungersterben gegeben. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache. In den Jahren des Hungerkosterlasses, also in den Jahren 1943-1945, starben 70% (542) aller in den Kriegsjahren 1940-1945 verstorbenen 785 Anstaltsinsassen. Das ist in diesen drei Jahren 1943-1945 mehr als eine Verdoppelung gegenüber der Zahl der Sterbefälle der drei Vorjahre 1940-1942 (243). Die Entbehrungen des Krieges und Überbelegung können dafür nicht alleine verantwortlich gewesen sein. Menschen verhungerten direkt in der Klinik oder starben an einer Überdosis von Medikamenten oder durch Vernachlässigung. Einen anderen Schluss lassen diese Zahlen nicht zu.

Dafür spricht auch, dass die Sterberaten wie an allen bayerischen Heil- und Pflegeanstalten schon im ersten Nachkriegsjahr 1946 deutlich zurückgingen. Und dies, obwohl in den Nachkriegsjahren die Belegung der Lohrer Klinik weiter gestiegen war, und obwohl nicht nur der Winter 1946/1947 als „Hungerwinter“, sondern alle Nachkriegsjahre als Jahre, in denen „es nichts gab“, in die Geschichtsbücher eingingen. Ganz offensichtlich hatte die amerikanische Besatzungsmacht auch in Lohr nach der Befreiung am 2.4.1945 sehr schnell reagiert, die gröbsten Missstände abgestellt und 51 Personen aus dem Dienst entfernt. Papst wurde zwar später nur als Mitläufer eingestuft, kehrte aber nie mehr in den öffentlichen Dienst zurück.

Deportation und Tötung anderer Patientengruppen aus Lohr 1940-1944: Kinder, Kriegsgefangene/Zwangsarbeiter und „Hangkriminelle“

Für die „Kinder-Euthanasie“ war parallel zur T4-Aktion 1939 ein „Reichsausschuß“ als zentrales Steuerungsgremium in Berlin eingerichtet worden, der dem Reichsinnenministerium unterstand und nicht vom T4-Stopp betroffen war. Über das Bayerischen Innenministerium war wohl von diesem „Reichsausschuß“ die Deportation von 12 behinderten Kindern aus der Lohrer Anstalt in die sog. „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar angeordnet worden. Der Transport war vom Lohrer Direktorat organisiert und am 15.10.1941 per Bahn durchgeführt worden. Die Kinder stammten ursprünglich aus der aufgelösten Anstalt St. Josefshaus in Gemünden, von wo insgesamt 140 Kinder am 7. November 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt nach Lohr überführt worden waren. Von den 12 Kindern ist ein Mädchen in Eglfing-Haar gestorben, ein zweites wurde dort ermordet. Neun Kinder wurden am 10.3.1942 von Haar nach Kaufbeuren „verlegt“ und in der dortigen „Kinderfachabteilung“ ermordet. Von einem Jungen weiß man nicht, ob er möglicherweise überlebt hat. Seine Patientenakte ist weder in Eglfing-Haar noch in Kaufbeuren erhalten

Im Zuge der millionenfachen Deportation von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern nach Deutschland erkrankten viele auch an psychischen Krankheiten. Bis 1944 wurden sie auch in Bayern in Heil- und Pflegeanstalten behandelt – auch in Lohr.  Nach Aktenlage gibt es 34 Lohrer Krankenakten hierzu. Aus den Entlassungsbüchern der Lohrer Anstalt ergibt sich für den Zeitraum zwischen November 1940 und Oktober 1944 die Verlegung und mutmaßliche Ermordung von zehn dieser Frauen und Männer. Dies geschah auf Veranlassung des Reichsministers des Innern. Für „unheilbar geisteskranke Ostarbeiter“ war für Bayern mit Schreiben vom 6.9.1944 zuletzt Kaufbeuren als Sammelanstalt bestimmt worden, ehe sie wohl in der Tötungsanstalt Harheim b. Linz umgebracht wurden.

Mit gemeinsamer Anweisung des Reichsjustizministeriums und des Reichsinnenministeriums waren schließlich 1944 alle Anstalten im Reich aufgefordert worden, nach § 42b StGB untergebrachte Patienten (insbesondere „Hangkriminelle“) „zur Gewinnung freier Betten“ an die Polizei „zum Arbeitseinsatz in Lagern“ abzugeben. Die Auswahl wurde von der „Reichsarbeitsgemeinschaft“ der Heil- und Pflegeanstalten getroffen.  So waren am 30.5.1944  18 Frauen und Männer aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt in Lohr abgeholt und in die Konzentrationslager Auschwitzexterner Link und Mauthausenexterner Link gebracht worden. Von ihnen überlebten wie durch ein Wunder drei Männer und zwei Frauen.

April 1945: Amerikanische Panzer unterhalb der Heil- und Pflegeanstalt

NS-Zeit

Ehemaliges und neues Mahnmal auf dem Gelände des Bezirkskrankenhaus

23 Jahre lang erinnerte ein Mahnmal an das schreckliche Schicksal von 470 psychisch kranken und körperlich und geistig behinderten Patientinnen und Patienten des Bezirkskrankenhauses. Sie wurden als „Ballastexistenzen“ unter dem Deckmantel der „Euthanasie“ 1940 von den Nationalsozialisten von hier aus deportiert und in eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten des Reichs ermordet. Das ursprüngliche, von einer Ärzteinitiative des Krankenhauses initiierte, in die Straße eingelassene Bronze-Mahnmal "Finaler Adam II" hat der Bildhauer Rainer Stoltz 1992 gestaltet. Es zeigte einen gekrümmten, geschundenen Körper und trug die Namen der sechs Tötungsanstalten in einer pyramidenförmigen Reliefstruktur. Aufgrund von durch den Straßenverkehr verursachten Beschädigungen wurde es im Juli 2016 abgebaut. Es hat 2020 im städtischen Museum Karlstadt dauerhaft eine neue Heimat gefunden. Seit 2020 mahnt der "Turm der Erinnerung" von Heike Metz am Haupteingang des Festsaals des Bezirkskrankenhauses an die dunkle Geschichte dieser Zeit.

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Das ehemalige Denkmal von Rainer Stoltz auf dem Gelände des BKH Lohr.

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Der "Turm der Erinnerung" von Heike Metz vor dem Haupteingang des Festsaals.

Ansprechpartner:
Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin
Am Sommerberg
97816 Lohr a.Main
Tel: BKH Zentrale 09352 503-0
Fax: 09352 503-20000